* 44 *
Die Große Tür der Zeit schloss sich lautlos hinter ihnen.
»Nicko«, schluchzte Jenna. »Nicko!«
»Das hat keinen Sinn, Jenna«, sagte Septimus müde. »Er ist jetzt fünfhundert Jahre von uns entfernt.«
Jenna sah ihn ungläubig an. Sie hatte erwartet, dass sie in der Burg herauskommen würden, doch jetzt gingen sie durch einen schmutzigen unterirdischen Gang, der von komischen Glaskugeln beleuchtet wurde. »Wie? Du meinst, wir sind schon zurück ... zurück in unserer Zeit?«
Septimus nickte. »Wir sind zu Hause, Jenna. Das ist der Altweg. Er ist wirklich sehr alt. Er verläuft noch weit unter den Eistunneln.«
»Und hier lebt der alte Marcellus?«, fragte Jenna. »Man sollte meinen, dass er uns erwartet, weil er ja weiß, dass wir kommen.«
»Fünfhundert Jahre sind eine lange Zeit, da kann man leicht etwas vergessen, Jenna. Ich glaube nicht, dass er noch weiß, was vor sich geht. Er wird hier irgendwo sein. Komm, machen wir, dass wir hier herauskommen.«
Mit der Miene eines erfahrenen Reisenden schritt Septimus den Langgang entlang, und Jenna stapfte, Ullr an sich drückend, hinter ihm her. Sie sprachen beim Gehen kein Wort, denn beide waren in Gedanken bei Nicko.
Nach einer Weile sagte Jenna: »Falls Nicko jemals durchkommt, wie soll er dann den Weg zurück finden?«
»Nicko wird schon einen Weg finden, Jenna«, antwortete Septimus. »Er findet immer einen.« Er gab sich zuversichtlicher, als er in Wirklichkeit war, denn es war noch gar nicht lange her, da hatte Nicko eine Ameise für einen Fußpfad gehalten und sie im Wald in die Irre geführt.
»Und Snorri ...«, sagte Jenna. »Ich habe Snorri wirklich gemocht.«
»Ja. Nicko auch. Das war ja das Problem.« Septimus klang sauer.
Die ganze Zeit über gab Ullr keinen Laut von sich. Der kleine rote Kater mit der schwarzen Schwanzspitze lag ruhig in Jennas Armen, doch sein Geist war weit weg – bei seiner Herrin in einer fernen Zeit.
Fünfhundert Jahre entfernt saß Snorri Snorrelssen verloren und traurig am Ufer eines Flusses. Doch als sie in die Ferne blickte, sah sie den Altweg und die lange Reihe der Kugeln mit dem Ewigen Feuer, und obwohl sie nicht begriff, was sie sah, wusste sie, dass sie mit Ullrs Augen sah.
Es war bitterkalt im Altweg. Jenna und Septimus zogen ihre Unterkochmäntel enger, doch noch immer kroch die Kälte darunter und brachte sie zum Zittern. Der raue Stoff der Mäntel schleifte am glatten Fußboden, und leises Rascheln erfüllte die Luft wie das Schlagen von Fledermausflügeln in der Dämmerung.
Marcellus erwartete sie am Fuß der Lapislazulitreppe. Er saß zusammengesackt auf dem Stein und hatte die tief liegenden Augen geschlossen. Jenna zuckte beim Anblick des uralten Mannes zusammen und drückte Ullr fest an sich – so fest, dass weit entfernt Snorri aufstöhnte, weil sie in der Rippengegend plötzlich einen Schmerz verspürte.
»Er ... er ist doch nicht tot, oder?«, flüsterte Jenna.
»Noch nicht«, antwortete eine zittrige Stimme. »Obwohl da kein großer Unterschied besteht, das ist wohl wahr.« Der alte Marcellus leckte sich die trockenen Lippen und starrte Septimus an, als versuche er sich an etwas zu erinnern. »Bist du der Junge mit der Tinktur?«, fragte er. Septimus glaubte, etwas vom Ausdruck des jungen Marcellus in diesen wässrigen Augen wiederzuerkennen.
»Ich werde sie morgen brauen, wenn die Planetenkonjunktion stattfindet«, sagte Septimus. »Wissen Sie nicht mehr? Sie haben mir gesagt, dass ich sie in einer Schatulle mit der Sonne darauf in den Burggraben werfen soll.«
Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Was geht mich die Sonne an?«
»Ich werde die Tinktur in die Schatulle legen, wie ich es versprochen habe«, sprach Septimus geduldig weiter. »Und dann werden Sie mir zum Zeichen, dass Sie die Tinktur bekommen haben, den Flug-Charm zurückgeben. Erinnern Sie sich?«
Marcellus lächelte, und seine spärlichen Zähne glänzten rot im Flammenschein der Kugeln. »Jetzt entsinne ich mich wieder, Septimus. Ich vergesse nie ein Versprechen, das ich gegeben habe. Bist du Angler?«
Septimus schüttelte den Kopf.
»Mich dünkt, dann wirst du einer werden.« Marcellus kicherte.
»Auf Wiedersehen, Marcellus«, sagte Septimus.
»Leb wohl, Septimus, du bist ein trefflicher Lehrling gewest. Lebt wohl, meine liebe ... Esmeralda.« Der alte Mann schloss wieder die Augen.
»Auf Wiedersehen, Marcellus«, sagte Jenna.
Sie stiegen die lange, gewundene Lapislazulitreppe hinauf, bis sie direkt vor dem Spiegel standen. Septimus dachte an das letzte Mal, als er hier gestanden hatte, und konnte es kaum glauben, dass er diesmal imstande sein würde, durch ihn hindurchzugehen. Er betrachtete den Spiegel und zögerte, den Schlüssel in die Vertiefung darüber zu legen. Er sah, dass dieser Spiegel nicht der gleiche war wie der wahre Zeitspiegel. Es fehlten das berauschende Gefühl der Tiefe und die verschlungenen, wirbelnden Muster der Zeit. Dieser Spiegel hier sah blind und leer aus und schien nicht mehr zu sein als eine Glasscheibe mit einer armseligen Silberschicht.
»Zeit, nach Hause zu gehen«, flüsterte Septimus.
»Dann ... dann gehen wir also einfach da durch und kommen im Ankleidezimmer heraus?«, fragte Jenna.
»Ich nehme es an. Los, gehen wir.« Septimus wollte sie bei der Hand nehmen, doch sie sträubte sich und blickte sich ein letztes Mal um. »Nicko ist nicht durchgekommen, Jenna«, sagte er leise. »Ich habe die ganze Zeit gehorcht. Er ist nicht gekommen. Es gibt keinen menschlichen Herzschlag im Altweg außer deinem und meinem und – alle fünf Minuten – dem von Marcellus.«
Er legte vorsichtig die Hand auf den Spiegel. Sie durchdrang ihn so leicht, als stecke er sie in eine Schüssel mit kaltem Wasser. »Komm, Jenna«, sagte er sanft.
Jenna nahm seine Hand und folgte ihm in den Spiegel – und zurück in die Welt, in die sie gehörten.
Sie wurden von einem ohrenbetäubenden, spitzen Schrei empfangen. Marcia sprang von ihrem Platz am Tisch in der Hermetischen Kammer auf und ließ ein großes Buch mit Rechentabellen auf ihren Fuß fallen. Jillie Djinn stürzte herbei.
»Was ist geschehen, Marcia?«, rief sie, als sie aus dem Siebenkehrengang zur Hermetischen Kammer auftauchte. »Der Mäusefänger hat mir beteuert, dass er sie alle gestern gefangen hat. Es kann keine mehr da ... oh, du meine Güte, der Spiegel!«
»Septimus!«, rief Marcia, stieß ausgelassen mit dem Fuß die Rechentabellen beiseite und lief zum Spiegel. »Oh, Septimus, Septimus!« Sie schloss den auftauchenden Septimus in die Arme und wirbelte ihn im Kreis, was ihn komplett erstaunte, denn Marcia mied sonst Umarmungen.
Jenna sah zu, glücklich, dass nun alles wieder gut war, was sie Septimus angetan hatte. Und dann fiel ihr Nicko wieder ein, und sie brach in Tränen aus.
Im Manuskriptorium schauten einundzwanzig blasse Gesichter auf, als die weinende Prinzessin, eine magere rote Katze im Arm, und ein strubbeliger Junge, der große Ähnlichkeit mit dem Außergewöhnlichen Lehrling hatte – es aber natürlich nicht sein konnte, da ihm die Außergewöhnliche Zauberin, wie jedermann wusste, niemals erlaubt hätte, sein Haar so zu tragen – zusammen mit der Außergewöhnlichen Zauberin leise aus der Hermetischen Kammer kamen. Niemand hatte sie hineingehen sehen, doch einige der älteren Schreiber waren daran gewöhnt. Nicht alle Leute, die in die Hermetische Kammer hineingingen, kamen auch wieder heraus, und nicht alle, die herauskamen, waren auch hineingegangen. So war das nun mal. Außerdem bemerkten die Schreiber, dass die Außergewöhnliche Zauberin lächelte, was sie tags zuvor, als sie in die Kammer hineingegangen war, mit Sicherheit nicht getan hatte. Tatsächlich hatten die meisten Schreiber angenommen, dass es zu den Pflichten ihres Amtes gehörte, niemals zu lächeln, und waren deshalb ziemlich schockiert. Doch was immer die Schreiber in diesem Augenblick denken mochten, sie alle hörten damit auf, als ein lauter Knall die tiefe Stille im Manuskriptorium zerriss – die Schaufensterscheibe zersprang.
Foxy, der Beetles Aufgaben übernommen hatte, nachdem dieser mit der Seuche ins Spital eingeliefert worden war, kam kreidebleich durch die windige Tür gestürzt, die den Kundenraum vom eigentlichen Manuskriptorium trennte, und schrie: »Hilfe! Hilfe! Da ist ein Drache im Laden!« Dann fiel er in Ohnmacht.
Es war tatsächlich ein Drache im Laden – und sonst nicht mehr viel. Das Schaufenster war in tausend Stücke zersprungen, die Theke war Kleinholz, und die Flugschriften, Papiere, Broschüren und Manuskripte, die dort gestapelt waren, lagen entweder zertreten und mit schlammigen Drachenfußabdrücken bedeckt am Boden oder wurden vom kräftigen Vormittagswind durch die Zaubererallee geweht.
»Feuerspei!«, rief Septimus und rieb dem Drachen die Nase. »Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Wir haben einen Suchzauber durchgeführt«, sagte Jenna glücklich. »Und er hat geklappt. Irgendwie.«
Jillie Djinn nahm die Trümmer in Augenschein. Sie war nicht glücklich. »Ich würde Sie ja bitten, besser auf Ihren Drachen aufzupassen, Marcia«, sagte sie, »aber dazu ist es offensichtlich zu spät.«
»Das ist nicht mein Drache, Miss Djinn«, keifte Marcia, deren Lächeln augenblicklich verschwand. »Er gehört meinem Lehrling hier, und er ist ein kundiger und umsichtiger Drachenhalter.«
Jillie Djinn schnaubte verächtlich. »Nicht kundig genug, wie’s scheint, Madam Marcia. Ich werde Ihnen die Rechnung für das Schaufenster und die Vielzahl verlorengegangener und ruinierter Papiere zuschicken.«
»Sie können mir so viele Rechnungen zuschicken, wie Sie wollen, Miss Djinn. Die Nächte werden kürzer, und es wird mir ein großes Vergnügen sein, das Feuer mit ihnen anzuzünden. Wünsche einen Guten Tag. Kommt, Jenna und Septimus, Zeit, nach Hause zu gehen.« Damit stieg Marcia verächtlich über die Trümmer und rauschte zur Tür hinaus. Draußen auf der Zaubererallee angekommen, schnippte sie mit den Fingern nach Feuerspei, der daraufhin gehorsam durch das eingedrückte Schaufenster sprang, denn Marcia hatte etwas an sich, das Feuerspei immer noch an eine Drachenmama erinnerte.
Septimus konnte es kaum glauben, dass sein Traum wahr geworden war, als er auf die Zaubererallee – seine Zaubererallee – hinausspazierte. Er blieb stehen und atmete die Luft ein – die Luft seiner Zeit, die nach Holzrauch und nach Pasteten roch, denn pünktlich zur zweiten Frühstückspause näherte sich der Fleischpasteten- und Würstchenkarren dem Manuskriptorium. Er spähte die breite Straße entlang bis zu dem länglichen, niedrigen Palast – Jennas Palast – in der Ferne, und er konnte nicht aufhören zu lächeln. Hier, so dachte er, gehöre ich her.
Doch während Septimus sich seines Lebens freute und, nachdem er sechs Monate lang kaum ein Wort gesprochen hatte, pausenlos plapperte, war Jenna erschöpft. »Du solltest mit uns kommen und etwas schlafen«, sagte Marcia zu ihr. »Ich schicke einen Boten in den Palast.«
Sie durchschritten den Großen Bogen. Feuerspei trottete dicht hinter Septimus her und schnupperte misstrauisch an seiner merkwürdig riechenden Kleidung. »Aua!«, jaulte Septimus, als ihm der Drache bei dem Versuch, ihm noch dichter auf den Leib zu rücken, in die Hacken trat.
»Ach du liebes Bisschen!«, rief Marcia. »Was hast du da an den Füßen, Septimus?«
Septimus kam sich in den Schuhen schon albern genug vor, auch ohne sich vor Marcia rechtfertigen zu müssen. Er wechselte schnell das Thema. »Schade, dass Beetle nicht gesehen hat, wie Feuerspei durchs Schaufenster kam. Er wird sich ärgern, dass er das verpasst hat. Wo ist er überhaupt?
»Ach ja«, seufzte Marcia. »Beetle. Schlimm, schlimm. Septimus, ich muss dir etwas sagen ...«